Eine fiktionale Erzählung - viel Spass beim Lesen!
Vergänglichkeit

«Anna, was ist mit dir? Weisst du die Antwort?». Sie zuckt zusammen. Der Lehrer sieht sie fragend an. Anna schüttelt ahnungslos den Kopf. Sie versteht die Frage nicht einmal. Der Lehrer wendet sich wieder von ihr ab. «Mist», flüstert sie und neigt beschämt ihren Kopf, dabei versucht sie ihre Tränen zurückzuhalten. Bald steht die grosse Prüfung an und Anna kapiert den Stoff immer noch nicht. Ihr schwirren einfach zu viele Gedanken im Kopf herum, die sie zu ordnen versucht. Sie weiss, dass sie das alles lernen muss. Ausserdem stehen noch andere Prüfungen an. Sie setzt sich selbst viel zu sehr unter Druck, das weiss sie. Schon lange ist sie nicht mehr so gestresst gewesen. Der Lehrer verteilt Aufgabenblätter, die sie lösen muss. Mit einem Blick erkennt sie, dass sie diese nicht versteht. Hektisch blickt sie um sich. Alle anderen schreiben fleissig auf ihrem Blatt. Sie schaut zurück auf ihres. Ihr wird es zu viel. In diesem Moment ertönt der Pausengong. «Gott sei Dank!», denkt Anna. Schnell packt sie ihre Sachen zusammen und verlässt das Gebäude.

Die frische Frühlingsluft tut ihr gut. Der Wind, der ihr ins Gesicht und durch ihre Haare bläst, wirkt fast wie eine Kopfschmerztablette. Anna bleibt stehen, schliesst ihre Augen und atmet tief ein. Sie riecht den frisch gemähten Rasen. Langsam öffnet sie wieder ihre Augen und läuft los. Allein, ohne Plan, ihr einziges Ziel ist es, von der Schule weg zu kommen. Schon lange ist sie nicht mehr allein, so ganz allein gewesen. Immer hat sie Leute um sich herum, ihre Freunde oder Familie. Auch wenn sie das sehr schätzt und eigentlich nicht gerne allein ist, merkt sie, dass sie Zeit für sich braucht. Ihr wächst alles über den Kopf. Sie verspürt ständig den Druck in allem gut sein zu müssen. Sie denkt an ihre Eltern, welche sie stolz machen will. Anna überquert die Strasse und läuft Richtung Wald. Nun weiss sie genau, wo sie hingeht. Sie geht an den Ort, an dem sie am besten über alles nachdenken kann. Schon als Kind ging sie oft dort hin, um zu spielen. Anna denkt an diese Zeit. Dabei fängt sie an zu lächeln. Es ist der Ort, wo sie unbeschwert sein konnte. Schon lange ist sie nicht mehr dort gewesen. «An was das wohl liegt?», überlegt sie sich. Durch den Schulstress und dem Druck, ist ihr der Ort in Vergessenheit geraten. Endlich ist sie angekommen. Sie steht am Waldrand vor einer alten Holzschaukel, die mit zwei Stricken an einem grossen, dicken Baum hängt.
Sie setzt sich darauf und blickt in den Wald. Dabei schaukelte sie leicht hin und her, so dass ihre Zehnspitzen immer noch den Boden berühren. Sie schaut nach oben zu den Baumkronen und beobachtet die Vögel. Alles ist friedlich. Sie atmet tief ein und schliesst ihre Augen. Sie hört dem Vogelgezwitscher und dem Rauschen des Windes, der durch die Blätter der Bäume weht, zu, was auf sie beruhigend wirkt. Anna merkt, wie sie sich langsam entspannen kann. Ein Gefühl von Leichtigkeit breitet sich in ihrem Körper aus. Warme Sonnenstrahlen scheinen ihr ins Gesicht. Die Waldgeräusche werden auf einmal durch einen dumpfen Lärm gestört. Durch den dichten Wald kann sie nichts erkennen. Sie hört jedoch, dass die Quelle des Lärms nicht weit weg sein kann. Es scheint, als würden die Vögel versuchen, es zu übertönen. Es gelingt ihnen ganz gut aber sie hört dennoch dieses Hämmern und Bohren. Die Anspannung kehrt in ihr zurück und mit ihr ein mulmiges Gefühl. Was hat der Lärm zu bedeuten?

Anna spaziert in den darauffolgenden Wochen wieder öfters zur Schaukel, wenn ihr in der Schule oder beim Lernen wieder alles zu viel wird und sie eine Pause braucht. Ausserdem hat sie ein ungutes Gefühl, dass ihr dieser Ort nicht mehr lange bleibt. Mit jedem Mal, wenn sie sich auf die Schaukel setzt und in den Wald blickt, fehlt ein weiterer Baum. Der Lärm dröhnt mit jedem Mal lauter in ihren Ohren, weswegen sie nur noch am Abend hingeht. Nun steht ihre Prüfung an. Anna ist sehr nervös und unsicher, «Ob ich das schaffe?». Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sie kann nichts mehr ändern. Sie muss jetzt diese Prüfung ablegen. Als der Schlussgong läutet, gibt Anna ihre Prüfung ab. Sie verspürt eine Erleichterung. «Endlich ist es vorbei!», freut sich Anna. Sie hat ein gutes Gefühl. Die Prüfung ist für sie wirklich gut gelaufen. Endlich ist der Druck weg.

Glücklich packt sie ihre Sachen zusammen und macht sich auf den Weg. Das erste Mal seit Wochen fühlt sie unbeschwert. Sie kann wieder durchatmen. Lächelnd und leicht hüpfend vor Freude, schlendert sie den Weg entlang. Auf den letzten Metern verschwindet ihr Lächeln schlagartig. «Bitte nicht!», flüstert sie mit zitternder Stimme. Anna läuft es kalt den Rücken hinunter.  Sie ist am Waldrand angekommen und steht vor ihrer Schaukel. Langsam greift sie nach den zwei Seilen, an denen die Schaukel hängt und setzt sich darauf. Sie beginnt sich leicht mit den Zehenspitzen abzustossen. Wie immer blickt sie Richtung Wald, doch dieses Mal starrt sie dabei eine graue Betonwand an. Anna hört kein Bohren und Hämmern mehr. Auch das Vogelgezwitscher ist verstummt. Ihr wird bewusst, dass ihr dieser Ort genommen wurde. Wie versteinert sitzt sie für eine Weile da. Sie schliesst ihre Augen und denkt sich den Wald vor sich. Sie hört das Gezwitscher und den Wind. Sie denkt an früher, wie sie auf der Schaukel spielte.  Dabei kullert ihr eine Träne die Wange hinunter. Als sie die Augen wieder öffnet, ist das Bild ihrer Erinnerung schlagartig weg. Alles ist still. Anna steht auf und verlässt, ohne noch einmal zurückzublicken, ihre geliebte Schaukel zum letzten Mal.

You may also like

Back to Top